Märkte zwischen blutrotem Schrecken und grüner Hoffnung

Es ist wieder so weit: Die Kunde vom Schreckensmonat September geht um. Genauso, wie sich Ende April die Aufrufe zum Ausstieg im Mai häufen. Überlegungen zum Wert von kalendarischen Börsenweisheiten.

Ali Masarwah 04.09.2013
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Ob Sell-in-May Effekt, Halloween-Regel, Winter- bzw. Januareffekt oder auch Jahresend-Rally: Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, zu jeder Jahreszeit eine passende Börsenweisheit zu vernehmen. Das ist derzeit nicht anders: Der „Schreckensmonat“ September ist da, in einigen Medien war sogar vom „blutroten Herbst“ die Rede. Die Kunde von „Gewitterfronten“ an den Märkten mutet da noch harmlos an!

Auf den ersten Blick ist in der Tat bemerkenswert, dass sich in bestimmten Monaten statistisch messbare Effekte häufen. So erlitt der DAX seit seinem Start im Jahr 1988 seine größten Verluste im Spätsommer. Im September 2002 verlor er 25,4 Prozent. Bitter war es auch im August 2011, als der deutsche Leitindex binnen weniger Tage um 19,2 Prozent einbrach. Im September 1990 betrug der Verlust 18,1 Prozent, im August 1998 waren es 17,7 und im September 2001 satte 17 Prozent. Sollten Anleger also im Juli, vielleicht sogar im Mai, ihre Aktien rechtzeitig vor dem vermeintlich unausweichlichen Herbst-Crash verkaufen?

Gemach. Wir wollen zunächst den oben genannten DAX-Verlusten auf die Spur gehen. Was ist damals im realen (Wirtschafts-)Leben passiert? Im September 2002 hatten deutsche Aktien unter den verheerenden Folgen der aufsichtsrechtlichen Vorgabe für Versicherungen zu kämpfen, die per Rundschreiben aufgefordert wurden, die Aktienquoten zu senken. (In den USA fielen die Aktienverluste im Sommer übrigens deutlich kleiner aus als in Deutschland).

Kommen wir zum zweigrößten DAX-Crash. Im August 2011 verschärfte sich die Krise der Staaten der Euro-Peripherie. Bis zur Verabschiedung des ersten Bankenrettungsprogramms durch die Europäische Zentralbank im Dezember 2011 schien das Schicksal der Eurozone sogar an einem seidenen Faden zu hängen.

Im September 1990 standen die Aktienmärkte weltweit unter dem Schock der Kuwait-Invasion durch den Irak und dem Aufmarsch der USA am Persischen Golf. Im August 1998 erreichte wiederum die LTCM-Krise ihren Höhepunkt, und der September 2001 stand ganz im Zeichen der Terroranschläge in den USA.

Fanden die Eurokrise, die LTCM-Implosion, die Kuwait-Invasion und 9/11 statt, weil es Spätsommer war und die Märkte nach ihrer periodischen Crash-Dosis lechzten? 

Man könnte sich nun fragen, ob das Bafin-Ukas, die Eurokrise, die LTCM-Implosion, die Kuwait-Invasion und 9/11 stattfanden als sie stattfanden, weil es Spätsommer war und die Märkte nach ihrer periodischen Crash-Dosis lechzten? Oder standen möglicherweise andere Ursachen Pate für die oben erwähnten Börsenkorrekturen? 

Doch gehen wir einen Schritt zurück. Wenn alle Medien und viele Kapitalmarktanalysten den September zum Crash-Monat erheben, zum Ausstieg im Mai blasen und Jahresendrallys ausrufen, wollen wir der Sache auf den Grund gehen. Um jedoch einigermaßen belastbare Aussagen über historische Performance-Muster treffen zu können, benötigen wir möglichst lange Zeitreihen. (Auch wenn eine DAX-Historie von 25 Jahren Normalsterblichen wie mir wie eine Ewigkeit vorkommt, schürzen Statistiker ob solch mickriger Zeitreihen verächtlich die Lippen.)

S&P-Daten reichen bis 1926 zurück

Werfen wir also einen Blick auf den US-Kapitalmarkt, der einiges mehr an historischen Daten zu bieten hat als der DAX. Die Daten unserer Tochtergesellschaft Ibbotson Associates reichen bis ins Jahr 1926 zurück. Wir haben die Monatsrenditen des S&P500, von US-Staatsanleihen und Rohstoffen verwendet und einige Stichpunkte zu möglichen Zusammenhängen zwischen historischen Renditen und Kalendermonaten notiert. (Die Daten zum Rohstoffindex S&P GSCI TR sind übrigens erst seit 1969 vorhanden).

Ein Rückblick auf die letzten 1.051 Monatsrenditen des S&P 500 zeigt, dass der September in der Tat der schlechteste Börsenmonat von allen war. Der US-Standardwerteindex verlor in den 88 Septembermonaten seit 1926 im Schnitt 0,77 Prozent. Die größten Kursverluste in einem Monat verzeichnete der Index im September 1931 mit einem Minus von 29,73 Prozent.  Der beste Monat im S&P 500 war der April 1933. Der Index legte damals um sensationelle 42,56 Prozent zu. (Er hatte im Zuge der Weltwirtschaftskrise zuvor allerdings bereits sensationell viel verloren.)

Haben die Auguren also Recht? Im Mai verkaufen und ab Oktober wieder dabei sein? So einfach ist es nicht. Denn abgesehen vom besagten September-Phänomen liefern die Zahlen wenig, was die anderen vermeintlichen Regeln stützen könnte, wie die untere Tabelle zeigt.

Zwar fallen die Renditen in den Monaten November, Dezember und Januar überdurchschnittlich hoch aus. Allerdings wackeln danach die Börsenregeln ganz gewaltig. Die Aktienmarkt-Renditen fallen im Februar und März bescheiden aus. Und wer im Mai verkauft, hat statistisch gesehen einen ordentlichen Juni und den sensationell guten Juli verpasst. Letzterer war mit einem durchschnittlichen Plus von 1,79 Prozent seit 1926 der freundlichste Börsenmonat in der Historie des S&P 500. Auch der August lieferte mit einem Plus von durchschnittlich 1,33 Prozent eigentlich zu gute Renditen, um außen vor zu bleiben.

Tabelle: Durchschnittsrenditen des S&P 500 seit 1926

Das bringt uns zur Frage: Was lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass der September der schlechteste Monat im S&P seit 1926 war und auch der einzige, bei dem im langfristigen Durchschnitt negative Renditen zu beobachten waren? Lässt sich aus dem September-Phänomen eine Handelsstrategie für Privatanleger aufsetzen, die nach Abzug von Handelskosten und Steuern tatsächlich einen Mehrwert liefert? (Wir lassen dabei den Einwand außen vor, dass Vergangenheits-Renditen nicht in die Zukunft extrapolierbar sind.) 

Den September in den Orkus shorten?

Es sind Zweifel angebracht, dass Privatanleger eine September-Vermeidungsstrategie konsequent und gewinnbringend umsetzen können - oder auch sollten. Natürlich bestünde die Möglichkeit, das Aktienportfolio Ende August zu verkaufen und im Oktober oder November wieder einzusteigen. Angesichts der Handelskosten und der erwarteten steuerlichen Nachteile erscheint diese Vorgehensweise indes wenig empfehlenswert.

Ließe sich vielleicht der Hebel ansetzen? Eine Short-Strategie, also mittels Leerverkäufen auf fallende Kurse zu setzen, klingt auf den ersten Blick schlüssig, dürfte aber in der Praxis kaum durchzuhalten sein. Auch der vermeintliche Horrormonat September lieferte in 44 von 87 Fällen seit 1926 positive Renditen. In den vergangenen 20 Jahren fiel beim S&P 500 in nur neun Jahren eine negative Performance im September an. Im Schnitt waren es Verluste von nur -0,1 Prozent.

Auch der vermeintliche Horrormonat September lieferte in 44 von 87 Fällen seit 1926 positive Renditen.

 

Einen Tick besser waren die Aussichten für eine September-Short-Strategie in den vergangenen 30 Jahren. Hier schlug immerhin ein Minus von durchschnittlich 0,53 Prozent zu Buche. Allerdings stand auch in 15 von 30 Septembermonaten ein Plus unter dem Strich. Eine Short-Strategie hätte also in der Hälfte aller Fälle Verluste verzeichnet. Ein Selbstläufer ist also eine September-Short-Strategie nicht.

Zudem stellt sich die Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass Privatanleger derartige Strategien über 20, 30 Jahre oder länger durchhalten können und bereit sind, hohe Verluste in Kauf zu nehmen? Hand aufs Herz: Wie viele real existierende Handelsstrategien kennen Sie, die seit 10, 20 oder 30 Jahren systematisch im September Short-Strategien implementieren? Die vier Septembermonate der Jahre 1995 bis 1998 zählten übrigens zum besten Performance-Quartil des S&P seit 1926. Starke Nerven wären also bei so einer Strategie gefragt!

Und was ist mit Umschichtungen in einem diversifizierten Portfolio?

Doch vielleicht sind derartige binäre Risk-on-/Risk-off-Strategien, die alles auf eine Karte setzen, zu krude? Möglicherweise sollte man den überdurchschnittlich häufig schwachen Aktienmonat September in einen Portfoliokontext einbetten und in einem diversifizierten Portfolio genau in den Septembermonaten Bonds oder Rohstoffe stärker gewichten als in anderen, um die Wirkung negativer Aktienrenditen aufzufangen? Wir haben nachgerechnet, wie die Renditen von Aktien zu Bonds bzw. Rohstoffen im September zueinander stehen.

Tabelle: Korrelationsdaten Aktien vs Bonds und Rohstoffe

Wie die obere Tabelle zeigt, relativiert sich über lange Zeiträume der heute so selbstverständlich herbeizitierte Ruf von Bonds als diversifizierende Kraft in Aktienportfolios. Während in Monaten mit positiven September-Renditen langlaufende US-Staatsanleihen negativ mit dem S&P korreliert waren, hat die diversifizierende Wirkung von Bonds in Monaten mit negativen S&P-Renditen deutlich abgenommen, auch wenn sie mit 0,037 nur schwach positiv korreliert sind.

Bei Rohstoffen verstärkt sich die diversifizierende Wirkung in Septembermonaten mit negativen Aktienrenditen zwar gegenüber positiven Monaten, dennoch bleiben Rohstoffe auch in schwachen Zeiten leicht positiv mit Aktien korreliert. Insofern wäre es per Saldo besser gewesen, keine derart mechanistische Umschichtung von gemischten Portfolio vorzunehmen. In Krisenzeiten tendieren viele Asset-Klassen gemeinschaftlich gen Süden, und Anleihen können durchaus mit von der Partie sein! (Davon können übrigens die Investoren etlicher Risk-Parity-Fonds heute ein Lied singen.) 

Den Unterschied zwischen Korrelationen und Kausalitäten beachten

Auch wenn hinter einigen der untersuchten Börsenregeln gewisse Muster an den Kapitalmärkten stehen, wie etwa der Septembereffekt, sollten sich Privatanleger davor hüten, aus den Performance-Mustern der Vergangenheit fragwürdige Anlagestrategien abzuleiten - eine Korrelation von Daten hat nichts mit (ursächlicher) Kausalität zu tun! Die Implementierung von Saisonalitätsstrategien wäre wegen häufiger „Fehltreffer“ zudem eine kostspielige Angelegenheit, und angesichts der höchst problematischen Ein- und Ausstiegsfrage liefen Anleger Gefahr, sehr gute Börsenphasen außen vor zu lassen.

Nicht dabei zu sein könnte langfristig mehr Schaden in Portfolios anrichten als eine zeitweilige Abstinenz vom Markt Nutzen stiftet. Wir halten es deshalb mit einem ganz anderen Börsianer-Spruch: „Hin und Her macht Taschen leer!“ Ihn sollten Langfristinvestoren unbedingt beherzigen!

 

Die in diesem Artikel enthaltenen Informationen dienen ausschließlich zu Bildungs- und Informationszwecken. Sie sind weder als Aufforderung noch als Anreiz zum Kauf oder Verkauf eines Wertpapiers oder Finanzinstruments zu verstehen. Die in diesem Artikel enthaltenen Informationen sollten nicht als alleinige Quelle für Anlageentscheidungen verwendet werden.

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Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich