Bei europäischen Aktien ist Geduld oberste Anlegertugend

Europäische Aktien erscheinen unterbewertet, werden unserer Meinung nach aber noch billiger zu haben sein.

Von Sam Lee, 09.01.2012
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Wir befinden uns in einer ungewöhnlichen Situation. Wir leben in Zeiten, in denen die Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA zu einem deutlichen Kursanstieg bei amerikanischen Staatsanleihen führt; viele Volkswirte empfehlen den Staatslenkern in Eurpa heute, mehr Schulden aufzunehmen, um die gigantischen Schuldenberge zu bekämpfen. Die Stimmung in Europa ist bedrohlich. Sollten wir in dieser Situation eine Fahrt ins Ungewisse wagen und Aktien aus Europa kaufen? Die Anreize sind groß. Unter Einbezug verschiedener Bewertungskriterien erscheinen europäische Aktien im historischen Vergleich unterbewertet. Der Cashflow vieler Unternehmen ist vielversprechend. Gelingt es den betroffenen Staaten, die Krise zu bewältigen, wäre eine massive Kurs-Rally die Folge, und die Aktienkurse würden sich von ihren vermeintlich niedrigen Niveaus lösen. Doch vorerst sind die Kurse nur optisch günstig; europäische Aktien könnten eine Value-Falle darstellen!

Gemessen an einer Reihe von Kennzahlen ist der Aktienmarkt in Europa unterbewertet. Am 8. Dezember 2011 lag das Shiller-KGV (das Verhältnis aus gegenwärtigem Kurs dividiert mit dem Durchschnitt der realen Gewinne der Unternehmen der letzten zehn Jahre) bei 13. Dafür wurde der STOXX Europe 600 Index verwendet, der mit 238 Punkten an diesem Tag notierte. Der S&P 500 bewegt sich auf einem Niveau von 21, was den heftigen Preisabschlag europäischer Aktien verdeutlicht. Die Dividendenrendite in Europa liegt um 2 Prozentpunkte höher als die des S&P 500. Das Kurs-Buchwert-Verhältnis europäischer Aktien beträgt rund 1,3, was deutlich geringer ist als der Durchschnittswert seit 1975 von 1,8. Der europäische Markt ist damit 30 bis 40% billiger als der S&P 500. Die gegenwärtigen Preise suggerieren damit eine erwartete Realrendite von 6-7% jährlich auf langfristige Sicht.

Dennoch ist die Sicherheitsmarge nicht besonders groß. Die Gewinne der Unternehmen und die privaten Einkommen wurden durch eine zunehmende Verschuldung aufgebläht. Dieser Verschuldungszyklus begann in den 1980-iger Jahren und gewann in den letzten zehn Jahren an Dynamik. Die reale Dividende pro Aktie in Europa wuchs um 4,4% jährlich zwischen 1985 bis 2011. Andere Industrienationen legten dagegen nur ein 1% jährliches Wachstum zwischen 1900 bis 2010 vor, wobei Schweden mit 2% jährlich die Tabelle anführt. Der Abbau der Verschuldung kann zu einer Abnahme der Realdividende über viele Jahre führen. Ein gebremstes Wachstum von 2 Prozentpunkten würde den europäischen Markt gegenwärtig als fair bewertet erscheinen lassen und nicht als unterbewertet.

Aber vielleicht verteidigt Europa ja seine ruhmreiche Vergangenheit; vielleicht führen die weitere Flexibilisierung am Arbeitsmarkt sowie die neuen Regulierungen und die Fiskalreformen, die Deutschland vorschlägt, zum Erfolg? Vielleicht entwickelt sich sogar die Eurozone zu einem ‚Über-Exporter‘ nach deutschem Vorbild?

All diesen Hoffnungen stehen große Risiken gegenüber, insbesondere wenn man die globalen Entschuldungstendenzen berücksichtigt. Wohin sollen etwa all die Exporte gehen? Nach China? Oder in die USA, wo selbst die Privathaushalte die Grenzen des Konsums auf Kreditkartenpump erkannt haben? Wer heute blind der Annahme des "mean reversion" folgt und von einer baldigen Rückkehr der Aktienkurse zu ihrem langfristigen Durchschnitt ausgeht, läuft Gefahr, in scheibchenweise fallende Märkte zu investieren und Werte zu vernichten.

Risiko und Rendite

Ein Beispiel für dieses Szenario aus der nicht allzu fernen Vergangenheit: Als Russland seine Schulden nicht mehr bedienen konnte und der Rubel abgewertet wurde, verloren russische Aktien 90% ihres Werts. Es gibt eine Vielzahl von weiteren Beispielen, in denen Staaten ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen konnten, eine Abwertung erfolgte und kurzfristige massive Aktienverluste die Folge waren. Solange die Europäische Zentralbank die Schuldenkrise nicht unter Kontrolle hat, ist die Eurozone in Gefahr; die regelmäßig immer neu aufkommende Panik der Investoren regiert den Markt heute.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Diese Panik wird zugleich dafür sorgen, dass die Politiker und die Bürger in Europa nach Lösungsmöglichkeiten für die Probleme suchen. Der Mut und die Geduld der Investoren wird sich zu gegebener Zeit auszahlen. Doch wann ist die Zeit gegeben, in europäische Aktien zu investieren? Welche Kursniveaus signalisieren eine gute Einstiegschance?

Unserer Meinung nach werden europäische Aktien erst bei einem Shiller-KGV unter 10, gepaart mit einer Dividendenrendite von 6% oder mehr, interessant. Das bedeutet, dass der europäische Markt nach heutigem Stand mindestens weitere 30% an Wert verlieren muss. Selbst dann würden wir Bankaktien meiden und Qualitätsaktien mit einer hohen Dividendenrendite bevorzugen. Solche Aktien finden sich zuhauf etwa im Schweizer SMI oder im Dax-30-Index. Die Unternehmen, die weniger vom gesamtwirtschaftlichen Umfeld abhängen, können ihre Gewinne meistens immer noch profitabel anlegen. Eine andere Möglichkeit für Anleger, die sehr diversifiziert anlegen möchten, bildet der STOXX Europe 600.

Die in diesem Artikel enthaltenen Informationen dienen ausschließlich zu Bildungs- und Informationszwecken. Sie sind weder als Aufforderung noch als Anreiz zum Kauf oder Verkauf eines Wertpapiers oder Finanzinstruments zu verstehen. Die in diesem Artikel enthaltenen Informationen sollten nicht als alleinige Quelle für Anlageentscheidungen verwendet werden.

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