Die ewige Suche der Anleger nach Sicherheit

Unsere Serie über typische Anlegerfehler zeigt, warum bei Geldentscheidungen „risikolose“ Alternativen der Maßstab sein sollten.

Lee Davidson 20.01.2012
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Wir haben in der vergangenen Woche eine neue Artikelreihe gestartet, in der wir die Triebfedern für das Anlegerverhalten unter die Lupe nehmen. Investoren sind voreingenommen, wenn sie Entscheidungen unter unsicheren Bedingungen treffen. Wir wollen der Frage nachgehen, wie man diese Handlungsweisen erkennen und im Sinne der Anleger beeinflussen kann. In diesem Beitrag geht es um ein derzeit viel diskutiertes Modell, das beschreibt, wie sich Investoren zwischen riskanten und risikofreien Alternativen entscheiden. Die so genannte „Prospect Theory“, auch „Neue Erwartungstheorie“ genannt, wurde 1979 erstmals von Daniel Kahneman und Amos Tversky vorgestellt. Dieses Modell erleichtert Ihnen die – rationale! - Entscheidung zwischen aktiven und passiven Investmentprodukten.

Im vorangegangenen Artikel haben wir gezeigt, dass die Theorie des erwarteten Nutzens, eine der Grundlagen der klassischen ökonomischen Theorie, nicht alle der von Investoren getroffenen Entscheidungen erklären kann. Bei der Theorie des erwarteten Nutzens wird davon ausgegangen, dass Individuen wie Sie und ich rational handeln, wenn sie mit unvorhersehbaren oder risikoreichen Situationen konfrontiert werden. Doch es zeigt sich immer wieder, dass Investoren dazu neigen, für sichere Ergebnisse einen Aufschlag zu zahlen. Investoren entscheiden sich im Zweifel gegen eine riskante Anlage und für Sicherheit, auch wenn Ihnen dann eine höhere Rendite entgeht. Zwar ist manchen eine solche Sicherheit mehr wert als anderen, doch allein die Tatsache, dass die Bereitschaft überhaupt besteht, einen Aufschlag für Sicherheit zu zahlen, deutet darauf hin, dass die klassische Theorie Entscheidungsprozesse in Finanzangelegenheiten nicht vollständig beschreiben kann.

Die neue Erwartungstheorie dagegen geht davon aus, dass eine Entscheidung nicht allein davon abhängt, wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit einzelner Ergebnisse ist. Es kommt vielmehr ein Faktor namens „Entscheidungsgewicht“ ins Spiel. Das Entscheidungsgewicht beschreibt, welchen Stellenwert ein Individuum der Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse beimisst. Den Mathematik-affinen Lesern will ich die Formel nicht vorenthalten. Sie drückt den erwarteten Wert des risikofreien Ergebnisses und den erwarteten Gewinn eines riskanten Ergebnisses aus, in Bezug gesetzt zum Entscheidungsgewicht:

V(x,p,y,q)  =  v(y) + π(p)[v(x)-v(y)]

Dabei steht „y“ für das risikofreie Ergebnis, „x“ für das riskante Ergebnis, „π“ für das Entscheidungsgewicht und „p“ für die Wahrscheinlichkeit von „x“.

Die Erwartungstheorie hilft, die Beziehungen zwischen Entscheidungsgewicht, Ergebnissen und Wahrscheinlichkeiten zu verdeutlichen. Entscheidungsgewichte sind Funktionen der Wahrscheinlichkeit. Ihr Wert stimmt nicht unbedingt mit dem der Wahrscheinlichkeiten überein. In anderen Worten: Entscheidungsgewichte entsprechen der emotionalen Einschätzung der Chancen, sozusagen die gefühlte Chance. Wie die meisten Funktionen haben auch Entscheidungsgewichte mehrere Eigenschaften. Sie sind steigende Funktionen der Wahrscheinlichkeiten, müssen nicht mit der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit übereinstimmen, sind üblicherweise kleiner und verändern sich normalerweise nicht linear. Diese drei Eigenschaften dürften leicht nachvollziehbar sein. Denn erstens: Steigen die Chancen, einen Gewinn zu erzielen, schätzt man seine Chancen auch positiver ein. Zweitens: Entscheidungsgewichte entsprechen nicht unbedingt der Wahrscheinlichkeit. Und drittens sind die Entscheidungsgewichte wegen der Neigung der Investoren, Risiken zu vermeiden, üblicherweise niedriger als der Wert der Wahrscheinlichkeit.

Am Rande bemerkt: Die dritte Eigenschaft trifft nicht immer zu, wie Kahneman und Tversky herausfanden: Bei einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit wird man risikofreudiger, etwa beim Lottospiel oder bei der Zahlung einer Versicherungsprämie. In diesen Fällen ist der Wert des Entscheidungsgewichts üblicherweise größer als die dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten.

Die vierte Eigenschaft bezieht sich darauf, dass Entscheidungsgewichte sich nicht linear verändern. Steigt etwa die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses (p) um ein Prozent, bedeutet das nicht unbedingt, dass sich das Entscheidungsgewicht (π) ebenfalls um ein Prozent erhöht.

Diese abstrakten Überlegungen lassen sich am Beispiel einer Partie russischen Roulettes deutlich: Angenommen, Sie hätten einen geladenen Revolver mit sechs Kammern, in denen vier Kugeln stecken. Wofür würden Sie mehr zahlen: Wenn Sie statt der vier nur drei Kugeln in der Trommel hätten, oder statt einer Kugel gar keine? Die meisten von uns würden sich wohl für die zweite Variante entscheiden und für dieses Vorgehen mehr zahlen – obwohl in beiden Fällen jeweils eine Kugel aus der Trommel genommen wird und die Wahrscheinlichkeit gleichermaßen abnimmt. Ausgehend von diesem Beispiel kamen Kahneman und Tversky zu dem Schluss, dass die allermeisten Personen es vorziehen würden, die Wahrscheinlichkeit eines Verlusts von einem Prozent auf null zu senken, statt von 2,1 auf ein Prozent. Denken Sie einen Moment darüber nach: Im ersten Fall sinkt die Verlustwahrscheinlichkeit weniger deutlich, dennoch entscheiden sich die meisten für die erste Variante! Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Investoren nicht immer rational handeln und für Sicherheit einen Aufschlag zu zahlen bereit sind.

Die Theorie der beiden Wirtschaftswissenschaftler kann ohne große Probleme auf die Welt der börsennotierten Indexprodukte (Exchange Traded Products, kurz ETPs) übertragen werden. Die risikofreie Variante „y“ entspricht der Rendite, die man beim Investieren in einen Index oder einen entsprechenden ETP erzielt. „Risikofrei“ bedeutet in diesem Kontext natürlich nicht, dass eine solche Investition vollkommen ohne Risiko ist, sondern dass mit dem Indexprodukt immer dieselbe Rendite wie der zugrunde liegende Index (abzüglich der Gebühren) erreicht wird. Schließlich spiegelt das Produkt den Markt wider und hängt von dessen Entwicklung ab.

Aber zurück zu unserer Theorie: Wenn ein Investor in einen bestimmten Bereich investieren will, kann er sich für die „risikofreie“ Variante entscheiden und mit einem Indexfonds auf eine dem Markt entsprechende Rendite setzen, oder auf Risiko gehen und mit aktiv verwalteten Fonds darauf hoffen, dass er den Markt schlägt und mehr Rendite erzielt. Das „Risiko“ entspricht dabei in unserem Beispiel dem erwarteten Gewinn (oder Verlust), den der aktive Fondsmanager  einbringt. Der Wert des Entscheidungsgewichts π(p) hängt dann davon ab, wie hoch man die Erfolgschancen des Fondsmanagers (p) einschätzt, den Markt zu übertreffen und wie viel höher diese Outperformance (x) ausfallen dürfte. Unsere Formel sähe dann also wie folgt aus:

V(x,p,y,q) = Marktrendite + π(p)[erwartete Outperformance bei einer aktiven Vorgehensweise]; 

wobei π wieder für das Entscheidungsgewicht und p für die Wahrscheinlichkeit einer überdurchschnittlichen Entwicklung steht

Bei einer Investition fallen zwei Entscheidungen an: Zum einen muss ein Kauf beschlossen werden, und zum zweiten muss entschieden werden, ob man diese Position halten will. Bei einer aktiven Handelsstrategie „x“ muss dann immer wieder geprüft werden, ob die obigen Annahmen noch zutreffen, ob der Fondsmanager noch immer die erhoffte Outperformance bringt. Bei einer Investition in ein passives Produkt mit einer marktabhängigen Rendite y ist das nicht notwendig. Denn schließlich bedeutet eine – absolut gesehen - schwache Entwicklung eines ETP nicht, dass das Produkt seinen Status als „risikofreies“ Investment verloren hat. Denn bei einer Investition in ein ETP erhält man die gleiche Rendite wie bei einer Investition in die Benchmark, eine Überprüfung der Renditeerwartungen muss nicht vorgenommen werden. Bei einer aktiven Vorgehensweise, der riskanten Variante „x“, für die sich der Investor wegen der Hoffnung auf eine überdurchschnittliche Entwicklung (y) entschieden hat, muss dagegen immer wieder geprüft werden, ob diese Erwartung noch realistisch ist. Ein Vorgang, den ich in dieser Serie als „kritische Neubewertung“ bezeichnen werde.

Nach diesem Exkurs in die Welt der Erwartungstheorie sollten wir einige aktuelle Studien betrachten, die weitere Erkenntnisse zu unserem Thema enthalten. John Rekenthaler, Vice President of Research bei Morningstar, berichtet in diesem Video-Bericht von Daten, denen zufolge sich zwei Drittel der aktiven Fondsmanager auf längere Sicht (fünf bis 15 Jahre) schlechter als ihre Benchmark schlagen. Auf lange Sicht und über alle Kategorien hinweg, hat es nur ein Drittel der Fondsmanager geschafft, den Markt zu übertreffen. Die Ergebnisse können zwar kurzzeitig und je nach Investitionsschwerpunkt anders ausfallen, doch helfen derartige Erkenntnisse bei der Entscheidung für (oder gegen) eine Investition. Denn letztlich kommt es auf Ihr Entscheidungsgewicht an, Ihren Risikoappetit. Risikoscheue Anleger werden den Wert des Entscheidungsgewichts niedriger als die Erfolgsaussichten veranschlagen. In diesem Fall muss laut der neuen Erwartungstheorie das erwartete Ergebnis (beziehungsweise das Vertrauen in eine Outperformance des Fondsmanagers) sehr hoch sein, damit man eine aktive Handelsstrategie einer passiven vorzieht.

Diese Gedankengänge sind sicherlich kein Spaziergang. Doch hoffe ich, dass Sie dabei erkennen, dass Sie Ihre Investitionsentscheidungen bewusst beeinflussen und gestalten können. Dabei sollte nicht so sehr die Einordnung in „Gewinn und Verlust“ im Vordergrund stehen, sondern die Abwägung von „risikofrei“ und „riskant“.  Abhängig von unserer Einschätzung, wie viel höher und wie viel wahrscheinlicher uns eine aktive Handelsstrategie eine Outperformance einbringt, können wir uns für eine Investition in aktive oder passive Produkte entscheiden. In einigen Fällen dürfte das Resultat ein entschiedenes „Ja“ für passive Indexfonds sein, in anderen Fällen ein klares „Nein“. Die Entscheidung liegt beim Investor und seinen persönlichen Umständen, Präferenzen und Bewertungen.

In der nächsten Woche werden wir uns einem Thema widmen, das möglicherweise des Investoren schlimmster Feind ist: Die Angst vor Verlusten.


Die in diesem Artikel enthaltenen Informationen dienen ausschließlich zu Bildungs- und Informationszwecken. Sie sind weder als Aufforderung noch als Anreiz zum Kauf oder Verkauf eines Wertpapiers oder Finanzinstruments zu verstehen. Die in diesem Artikel enthaltenen Informationen sollten nicht als alleinige Quelle für Anlageentscheidungen verwendet werden.

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Über den Autor

Lee Davidson  is Head of Manager and Quantitative Research.